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Schulklassenkampf an der Elbe

Der erste Volksentscheid, der in Hamburg stattfand, seitdem Volksent-scheide durch Verfas­sungs­änderung verbindlich geworden sind, ist entschieden. Die als Gucci-Fraktion oder Elbvorortsinitiative bekannt gewordene großbürgerliche Gruppe „Wir wollen lernen“ hat sich gegenüber den  Bürgerschaftsparteien CDU, GAL, SPD, DIE LINKE mit 60.000 Stimmen Mehrheit durchgesetzt. Damit ist die bis 2013 geplante flächendeckende Einfüh­rung des längeren gemeinsamen Lernens in der Primarschule (Kl. 1-6) verhindert. Dennoch werden am 1. 8. 2010 23 sogen. „Starterschulen“ nun als Schulversuche damit beginnen. Mit einer beispiellosen Medien- und Mate­rial­schlacht, unterstützt von FDP und NPD, und in unglaublicher Demagogie setzten sich die Kräfte der Hamburger High Society durch: In den Stadtteilen, wo die Gutbetuchten mit Einkommen von über 50 000 € durchschnittlich wohnen, lag die Beteiligung zwischen 58 und 61 %. Wo viele Migrantinnen, Arbeitslose und die sozial Schwächeren leben, wie in Jenfeld, Billstedt, Steilshoop, Wilhelmsburg, Veddel und Harburg, wurde noch am ehesten für die Primarschule gestimmt- wenn sich überhaupt beteiligt wurde. In Billbrook, wo mehr Bürger von HARTZ IV leben als es Beschäftigte gibt, waren es nur 12, 5 %. Die BILD-Zeitung feuerte täglich Breitseiten gegen die Primarschule ab, im Hamburger Abendblatt plädierte Ex- Bürgermeister Voscherau (SPD) noch am Vortag der Abstimmung dagegen. Die zahlreichen Aktiven aus GEW, Schülerkammer, Paritätischem Wohl­fahrts­verband, GAL, der LINKEN und aus den 25 Migrantenorga­ni­sationen kamen dagegen trotz Hausbesuchen und Info- Ständen nicht an. Rund 200.000 MigrantInnen-Eltern durften, obwohl ihre Kinder die Schule in Hamburg besuchen, nicht abstimmen. Vergeblich hatten die MigrantInnen­orga­ni­sationen und MdB Mehmet Yildiz und die LINKE das gefordert. Das ließ sich jetzt aber noch nicht umsetzen. Etliche Abstimmende nutzten den Volksentscheid  auch dafür, dem Senat die Quittung auszustellen, weil er zum 1. 5. 2010 die Kita-Gebühren erhöht hatte oder wegen der Kosten für die Elbphilharmonie oder der HSH-Nordbank- Pleite. Obwohl es eine parlamentarische Mehrheit für die Primarschule in Hamburg gab, wurde keine gesellschaftliche Mehrheit dafür sichtbar, weil die Wahlbeteiligung nur bei 39, 3 % lag. Offensichtlich bedarf es einer stärkeren Mobilisierung der Arbeiterklasse, der Prekarisierten und der eingebürgerten MigrantInnen, selbst kleinste gesellschaftliche Refor­men gegen die Massenpresse, das große Geld und die Großbürger durchzusetzen. Da die Primarschulbefürworter immerhin 218.065 Stimmen erreichten, dürfte das Thema der Schulstruktur­reform spätestens bei der Bürger­schafts­wahl 2012 wieder ein heiß umkämpftes Thema sein.

Zum Ausgang des Volksentscheids

Den Ausgang des Volksentscheids um die Einführung der Primarschule und den Rücktritt des Ersten Bürgermeisters kommentiert Klaus Bullan, Vorsitzender der GEW Hamburg

„Die Gegner der Reform haben es also geschafft: Kinder werden auch weiterhin nach der vierten Klasse getrennt. Das ist sozial ungerecht und pädagogisch falsch. Deutschland steht mit dieser Praxis weltweit allein auf weiter Flur. Hamburg hätte als Vorreiterin die Wende weg von der rückwärtsgewandten Schulpolitik hin zu einer modernen Pädagogik machen können. Stattdessen konnte sich nun Walter Scheuerl mit seiner Angstkampagne durchsetzen. Der Sprecher der Initiative „Wir wollen lernen“ hatte viel Geld im Hinter­grund und hat viele Register der Verunsicherung und der Einschüch­terung durch juristische Verfahren gezogen. Immerhin ging es darum, mit Geld und Einfluss eigene Privilegien zu sichern. Dies sollte uns Allen Mahnung dafür sein, dass privilegierte Schichten Volksabstim­mungen als eine Möglichkeit der Mitbestimmung mit mehr Macht als andere für ihre Interessen instrumentalisieren können.
Sicherlich haben viele ihre Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung – Elbphilharmonie, HSH-Nordbank, Haushaltspolitik, Erhö­hung der Elternbeiträge an Kitas, Streichung des Weihnachtsgeldes – im Volksentscheid zum Ausdruck gebracht. Positiv jedoch ist dies: Der Einsatz von Tausenden von Men­schen aus Gewerkschaften, Parteien Eltern,- Lehrer- und Schülerver­bänden aber auch vielen anderen im Bündnis der Schulverbesserer hat gezeigt, dass die Debatte über die Gerechtigkeit von Schule sich nicht mehr zurückdrehen lässt. Früher oder später führt kein Weg daran vorbei, dass alle Kinder länger als vier Jahre miteinander lernen. Dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, haben auch die Pisa-Ergebnisse der letzten Jahre insbesondere in Hamburg gezeigt.“
Zum Rücktritt des Bürgermeisters:
„Die GEW bedauert den Rücktritt des Ersten Bürgermeisters Ole von Beust. Gerade in der Frage der Primarschule hat sich Ole von Beust als glaubwürdiger Politiker dargestellt, der bereit war, dazu zu lernen und für so gewonnene Erkenntnisse zu kämpfen. Seine Politik, sich innerhalb der Schwarz-Grünen Regierung für eine Öffnung der CDU hin zu einer gerechteren Schulpolitik stark zu machen, eigene Fehler der Vergangenheit einzugestehen und sich zu öffnen für neue Gedanken einer modernen Großstadtpolitik hin zu mehr Verantwortung der Bessergestellten für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, hat offensichtlich so viele seiner eigenen Wählerklientel verschreckt, dass er für diese Politik nun keine ausreichende Grundlage mehr sieht.
Vor uns liegen massive Probleme –  der größte Sparhaushalt in der Geschichte der Stadt, die Belastungen durch Leuchtturmprojekte und die Aufarbeitung der Vorkommnisse in der HSH-Nordbank. Von einer neuen, von der CDU geführten Regierung ohne Ole von Beust ist weder Besserung noch Lösung zu erwarten.“

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