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Ablenkungsmanöver Bildungschip

Ali Candemir
Nach der angekündigten Erhöhung der Hartz IV Regelsätze um 5 Euro, stellt Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, ihre neueste Idee, die Bildungskarte, vor. Der Forderung des Bundesverfassungsgerichts, die Hartz-IV Regelsätze für Kinder, ihren speziellen Bedürfnissen entsprechend zu errechnen, ist sie damit nicht nachgekommen. Auch ist die Idee von der Leyens nicht gerade neu. Schon seit neun Jahren gibt es die Familiencard, das Vorbild für die Bildungskarte, in Stuttgart. Berechtigt für die Familiencard sind Familien mit einem Einkommen von unter 60 000 Euro im Jahr. Die Karte wird von der Stadt Stuttgart jährlich mit einem Guthaben von 60 Euro aufgeladen, womit Nachhilfe, Theater-, Zoo- oder Schwimmbadbesuche bezahlt werden können. Auch Sport- und Musikangebote können mit der Karte vergünstigt genutzt werden. Die von der Bundesministerin erwogene Bildungskarte soll genau das auch für Kinder von Hartz-IV-Empfängern ermöglichen. Die FAZ attestierte von der Leyen, dass „Musikunterricht auf der Chipkarte wohl mehr mit der großbürgerlichen Vorstellungswelt der Ministerin zu tun hat, als mit der Lebenswelt der Kinder von Hartz-IV-Empfängern“. „Dem Großteil sozial schwacher Familien fehlt es am Nötigsten. Selbst die Anschaffung von Schulheften und Büchern stellt sie vor große Herausforderungen“ erklärt Maricha Aden, Rektorin der Berliner Wilhelm-Hauff-Grundschule. In den neu errechneten Regelsätzen für Kinder seien noch nicht mal diese Anschaffungen enthalten, so Aden.

Kritik auch aus den eigenen Reihen
Bundesfamilienministerin Kristina Schröder warnt „die Chipkarte dürfe nicht dazu führen, dass wir künftig Bewegungsprofile von Kindern und Jugendlichen erstellen können oder staatliche Stellen präzise Informationen über deren Freizeitverhalten sammeln“.  Des Weiteren werfen Kritiker des Bildungschips ein, sie sei diskriminierend und ermögliche sofortige Schlussfolgerung auf die sozialen Hintergründe der Kinder. Doch den entscheidenden Kritikpunkt wirft Bayerns Sozialministerin Christine Harderthauer ein. Sie spricht von einem unzulässigen „Misstrauensvotum gegen Familien“ und warnt davor, „Arbeit suchende Eltern, beispielsweise alleinerziehende Mütter, unter Generalverdacht zu stellen und zu bevormunden“. Obwohl mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine ehrliche und differenzierte Diskussion über die Bedürfnisse von Hartz-IV-Empfängern und deren Kindern oder die Aufgaben du Verantwortung eines demokratischen Staates möglich war,  ging die Diskussion dazu über, Hartz-IV-Empfänger zu diskreditieren. Es wurde über Nikotin- und Alkoholkonsum und Hartz-IV in einem Atemzug geredet. Die Regelsätze wurden schöngetrickst. Der neuerliche Anstoß von der Leyens ist nur ein weiterer Versuch, der eigentlichen Diskussion über die Ungerechtigkeit von Hartz-IV zu entgehen. Die soziale Schieflage in Deutschland ist ein allgemeines, strukturelles Problem und nicht das Problem vieler einzelner Hartz-IV-Empfänger. Die Politik des Sozialabbaus der vergangenen Jahrzehnte hat diese Probleme zu verantworten. Die Aufgabe, ein sozial schwaches Kind zu unterstützen und zu fördern, liegt nicht allein bei den Eltern, vor allem nicht, wenn ihnen die finanziellen Möglichkeiten, wie zuletzt auch mit der Streichung des Kindergeldes für Hartz-IV-Empfänger, genommen werden, sondern auch beim Staat. Wenn es aber an Einrichtungen, Freizeitmöglichkeiten und Fachpersonal fehlt und das Bildungssystem sozial selektiver ist, als in jedem anderen Land der EU, dann ist es nun wirklich makaber und zeugt davon, wie weltfremd Ursula von der Leyen ist, dass sie mit einem Bildungschip hundertausende sozial schwacher Kinder am sozialen Leben teilhaben lassen will.

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