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„Die Frage der Heimat wird kompliziert“

MEHMET SALİM

Tom Cheesman, ist ein englischer Literaturwissenschaftler und lebt in Wales (Swansea). Der Hochschullehrer hat im Bereich der interkulturellen Literaturwissenschaft zahlreiche Publikationen  herausgebracht. Cheesman ist der Auffassung, dass viele SchriftstelerInnen darauf gedrängt werden bzw. sich drängen lassen die Rolle des „Sprechers der Minderheit“ zu übernehmen. Wir haben mit ihm über sein neustes Buch über Türkeistämmige Schriftsteller in Deutschland gesprochen.
Sie sind Engländer und haben über türkisch-stämmige Schriftsteller, die in Deutschland leben, ein Buch geschrieben. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
1996 erlebte ich eine Autorenlesung am Goethe-Institut in London mit José F.A. Oliver und Hasan Özdemir, die damals mit einem gemeinsamen mehrsprachigen Lyrik- und Gesang-Programm auftraten (beide: Hochdeutsch, José: Alemannisch, Spanisch, Hasan: Türkisch). Das war faszinierend. Anschliessend lernten wir uns kennen und sie erzählten mir von der Vielfalt der deutschsprachigen Literatur “mit Migrationshintergrund” (den Begriff gab es übrigens damals noch nicht). In den folgenden Jahren lud ich Hasan, Feridun Zaimoglu, und Zafer Senocak nach Swansea ein und fing an, zum Thema zu publizieren.
Diese Literatur wird oft als Gastarbeiterliteratur oder Migrantenliteratur genannt. Wie bezeichnen Sie diese Literatur?
In dem Moment, in dem man “diese Literatur” von “anderer Literatur” unterscheidet, reduziert man die Texte und deren Autoren auf ein nicht-literarisches Element: die biographische, nationale oder ethnische Herkunft. Das ist selten das Interessanteste an einem literarischen Werk – und wenn das das Interessanteste ist, um so schlimmer für das Werk! Dennoch: viele AutorInnen aus ethnischen Minderheiten nehmen auf sich die Rolle des Repräsentanten der Gruppe, oder sie werden im Moment der Rezeption in diese Rolle gezwungen. Dem muss man als Kritiker und als Forscher Rechnung tragen. Ich gebrauche in meinem Buch den Begriff “Literature of settlement”. “Settlement” bedeutet “das Sich-Niederlassen”. Ich habe diesen Begriff als Antithese zu dem der “Migrationsliteratur” geprägt. Die neuesten Autorengenerationen mit Migrationshintergrund sind eben nicht selber “migriert”, sondern hier aufgewachsen, hier zur Schule und zur Universität gegangen, hier gehören sie hin – subjektiv wie objektiv, juristisch wie eben auch literarisch. Die Migration geht natürlich auch weiter, aber kulturell passiert längst etwas Anderes.
Die erste Generation hat vor allem in ihren Werken Fremdheit, Sehnsucht nach Heimat, Sprachprobleme thematisiert. Was haben die nächsten Generationen thematisiert?
Für viele AutorInnen, die hier aufwuchsen, sind diese Themen immer noch relevant, aber aus anderer Sicht natürlich. Jetzt ist die Türkei ein Land, in dem man sich fremd fühlen kann (z.B. in Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot). Die Frage der Heimat wird kompliziert, denn man fühlt sich einerseits in Deutschland zu Hause, zugehörig, andererseits wird einem diese Zugehörigkeit manchmal abgestritten. Es gibt aber AutorInnen, die diese Konflikt-Themen vermeiden. Sie nehmen die Position des Angekommenen ein, sagen direkt oder implizit: Ich bin hier nicht fremd, oder nicht fremder als sonst jemand; das ist meine Heimat, oder: der Begriff „Heimat“ interessiert mich nicht, ich bin Weltbürger; die deutsche Sprache ist mein Arbeitsmittel, mit ihr gehe ich perfekt souverän um; und über meine türkische Herkunft will ich nicht unbedingt erzählen. Man denke etwa an Akif Pirincci, der als erster türkischer Migrant einen deutschsprachigen Roman vorgelegt hat. Das war schon 1980: Tränen sind immer das Ende. In diesem Roman verwendete Pirincci Motive aus einem berühmten ostdeutschen Roman, Die neuen Leiden des jungen W von Ulrich Plenzdorf, der wiederum auf Goethes Werther beruhte. So schrieb Pirincci seine Geschichte in die deutsche Literaturgeschichte ein. Gleichzeitig rechnete er auch mit seiner türkischen Herkunft ab: sie sollte seine Identität nicht bestimmen. Anschließend baute er eine sehr erfolgreiche Karriere als Unterhaltungs-Schriftsteller auf, mit seinen „Felidae“-Romanen und anderen, die nichts mit Migration oder Minderheit zu tun haben. So hat sich Pirincci ganz von der Last der Erwartung befreit, er solle die Türkischdeutschen vertreten oder darstellen. Später hatte Selim Özdogan Erfolg mit Werken, die seine Herkunft höchstens sehr am Rande thematisierten. Stattdessen vertritt Özdogan (Die Tochter des Schmieds) die kosmopolitische Raver-Generation, für die ethnische und nationale Differenzen vollkommen unwichtig sind, oder sein sollen. Bei anderen Autoren aber wird die Ausgrenzung stark thematisiert, der Rassismus, Vorurteile. Die Wut über die Nicht-Akzeptanz durch die deutschen „Einheimischen“ kommt in Zaimoglus frühen Werken sehr klar zum Ausdruck. Auch in seinen neueren Romanen ist diese Wut im Hintergrund noch zu spüren, wenn er seine Figuren auf der Suche nach Liebe durch Mitteleuropa jagt. Das Thema Ausgrenzung lässt sich allerdings schwierig literarisch interessant machen. Einen guten Ansatz machte Hilal Sezgins historischer Krimi Der Tod des Maßschneiders.
Vor allem die zweite Generation kennt sich gut in beiden Kulturen und Sprachen aus. Was haben diese Autoren aus der türkischen Kultur  (Redewendungen o.ä.)  in die  deutsche Literatur eingebracht?
Es gibt eine Schreibtechnik, die eine Sprache verfremden und bereichern will, indem fremdes Sprachgut direkt übertragen wird. Ich nenne das die Kultur-Floskel-Transfer-Technik. Das ist gang und gäbe in der Literatur der Zweisprachigkeit, weltweit, z.B. in englischsprachigen postkolonialen Literaturen. In der türkischdeutschen Literatur wird diese Technik teilweise persifliert, etwa in den Texten von Osman Engin oder bei vielen Kabarettisten. Was die „ernste“ Literatur angeht, war es Emine Sevgi Özdamar, die als erste die türkischdeutsche Literatur „Salonfähig“ gemacht hat (Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 für Das Leben ist eine Karawanserai …). Diese Übersetzungs-Technik ist bekanntlich ein Merkmal ihrer frühen Prosa. Aber meines Erachtens ist nicht diese Technik das Besondere und Wertvolle an ihrem Werk, sondern ihr genialer dramaturgischer Sinn, der dafür sorgt, dass die Lektüre einer Ihrer Ich-Erzählungen zu einem faszinierenden Schauspiel in der Imagination wird. Die Kultur-Floskel-Transfer-Technik spielt ja nur an der Textoberfläche ab. Sie führt nirgendwo hin, was die Weiterentwicklung der Literatur angeht. (Es sei denn, man stellt sich vor, es würde eine türkischdeutsche Mischsprache entstehen. Dafür fehlen aber die Voraussetzungen.) Nicht zufällig verwendet Özdamar diese Technik immer seltener in ihren neueren Texten, und jüngere AutorInnen verwenden sie kaum; oder wenn, dann so subtil, dass der deutsche Leser fast nichts merkt. Sehr viel wichtiger als Kultur-Floskel sind nämlich die historischen Erfahrungen und Erinnerungen, Geschichten und Geschichte, die türkischdeutsche Schriftsteller in die deutsche Literatur hineintragen. Die Romane eines Ören und eines Dal sind äußerst wichtig für die deutsche Nachkriegsgeschichte, wie sie einst zu schreiben sein wird, unter adäquater Berücksichtigung der türkischen Partizipation an dieser Geschichte. Wichtig ist Zafer Senocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft, will man über die Gedächtnis-Kultur-Differenzen in deutsch-jüdisch-türkisch-armenischen Konstellationen reflektieren, sowie über die Bedeutung des Mauerfalls für Deutschtürken. Und sowohl Zaimoglu (Leyla) als auch Özdogan (Tochter des Schmieds) haben die Geschichte der ausgewanderten anatolischen Mütter in Romanen festgehalten, also gewissermaßen die Geschichte in Özdamars Karawanserai-Roman aus anderer Perspektive neu erzählt. Dieser Stoff beinhaltet die Frage: Wo kommen wir überhaupt her? Das ist grundsätzlich wichtig für die Entwicklung einer deutschen Identität, welche die türkischdeutsche mit einschließt. Genau das haben diese Autoren ja im Sinn. Sie wollen nicht als Exoten auftreten, die mit Kultur-Floskeln ihre spezielle Differenz an den Tag legen, sondern sie wollen mit den Deutschen lernen, zu verstehen, warum Leute wie sie jetzt ebenfalls Deutsche sind.

Als beste Fiktion gilt die Nicht-Fiktion

Wie bewerten die deutschen Literaturkritiker die Literatur der türkeistämmigen Autoren?
Unterschiedlich natürlich. Es gibt jede Menge schlechte Bücher von türkeistämmigen AutorInnen, die von deutschen KritikerInnen als solche anerkannt werden, indem sie wenig und abschätzig bis gar nicht rezipiert werden. Es gibt Werke, die man teilweise zu ernst nimmt, und es gibt solche, deren Ernst man unterschätzt – z.B. Osman Engins Kanaken-Gandhi. Man kann nicht sagen, dass es verkannte Genies gäbe. Zwar wird das literarische Werk eines Zafer Senocak weitgehend vernachlässigt, weil es die gängigen Klischees nicht bedient. Aus der türkischen Ecke erwartet man keinen experimentellen Modernisten wie Senocak, man weiß nicht, wie man ihn verkaufen soll. Aber ihm geht es da nicht anders als vielen Literaten, die den Geschmack dieser populistischen Zeit nicht treffen. Oder der Fall Zaimoglu: Er wird zum Teil aus den falschen Gründen gefeiert, nämlich weil er den Stereotyp des wilden jungen ‚Kanaken‘ erfüllte, obwohl er sich seit Jahren anstrengt, diesen Ruf los zu werden. Die Kritik neigt eben dazu, die Literatur als Repräsentations-Instanz wahrzunehmen, das heißt: Die Bücher kommen am besten an, die man letztendlich als Dokumentation wahrer Tatbestände verstehen kann. Das gilt nicht nur für die türkischdeutsche, sondern für die Literatur überhaupt in unseren Tagen. Als beste Fiktion gilt die Nicht-Fiktion, man will Reality lesen.

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