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Hans und die Rente

Seyda Kurt

Hans ist ein stinknormaler Junge aus einem Vorort der Stadt Kürzungshausen. Kürzungshausen steht z.Zt. groß in den Schlagzeilen der regionalen Presse, denen sie ihren Namen verdankt. Nachdem vor ein paar Jahren die Schulzeit auf 12 Jahre gekürzt wurde, damit die Kinder schneller auf dem Arbeitsmarkt landen, soll nun auch das Rentenbezugsalter verkürzt werden: das bedeutet Rente mit 67!
Hans Vater ist Bauarbeiter. Hans hätte sich gewünscht, dass sein Vater irgendeinmal mit weißem Bart in seinem Schaukelstuhl alte Geschichten erzählt. Stattdessen soll der weiße Bart schwere Gegenstände schleppen oder schwere Maschinen bedienen. Diese Vorstellung findet Hans komisch. Hans Schwester Sabine ist Reinigungskraft in einem Schuhladen um die Ecke und arbeitet für 7 Euro die Stunde. Eigentlich hat sie ihr gesamtes Leben davon geträumt, Lehrerin zu werden, doch ihre Lehrer belächelten sie bloß. Für eine Weiterschulung nach der 10 blieben keine Motivation und kein Geld. „Ich hasse meinen Job“, hört er sie ständig klagen „Anstatt diesen Mist Tag für Tag machen, bis ich 67 bin, mache ich lieber gar nichts. Bei dem Lohn hab ich ja sowieso nichts davon am Ende.“ Hans findet das komisch und hat Mitleid für seine Schwester mit dem großen Lebenstraum. Hans Onkel Werner ist 45 und Diplomingenieur. Verzweifelt sucht er nach einem Job in seiner Branche. Doch die bösen Onkels in ihren Chefsesseln wollen Onkel Werner nicht, erzählt man Hans. Er entspricht nicht dem Profil des Unternehmens: Jung, dynamisch, zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig und bitte mit mindestens 30 Jahren Berufserfahrung in sämtlichen internationalen Unternehmen. Das findet Hans wirklich, wirklich komisch.

Hans Lehrerin Fräulein In-diesem-Leyen-Ding sagt: „Kinder, auf eurem Rücken lastet eine riesengroße Verantwortung. Ihr müsst unsere alternde Gesellschaft vor der Apokalypse bewahren! Bei dem demographischen Wandel und den ganzen blöden alten Menschen, die wir jetzt am Hals haben wegen guter medizinischer Versorgung, ist eine Rentenkürzung alternativlos. Ach ja, und vergesst nicht ganz viele Kinder zu machen, verstanden?“ Hans versteht nur Bahnhof. Sein Tischnachbar Gerd dreht sich um und sagt „Ich verstehe zwar gar nichts, aber ist mir auch egal. Wir bekommen das alles sowieso nicht mehr mit. Am 21. Dezember 2012 geht die Welt unter und Facebook hat mich sogar zur Aftershowparty eingeladen. Stark, wa?“ Hans findet auch Gerd komisch.
Auf dem Nachhause-Weg geht Hans durch den Wald, obwohl seine Mami es ihm verboten hat. Dort sitzt ein alter Mann mit langem Bart, den sich Hans auch für seinen Vater wünscht. „Guten Tag“, begrüßt er den alten Herren. „Sind Sie schon in Rente? Oder noch keine 67?“ Er erzählt dem alten Mann von seiner Lehrerin, seiner Schwester, seinem Vater und Onkel Werner.
„Hör mal Jung“, sagt der alte Mann „Mit der Rente mit 67 wird die Tendenz der letzten Jahre, die Arbeiter zu belasten, weiter fortgesetzt.“

„Das verstehe ich nicht“, antwortet Hans.
„Ich habe Jahre lang als Busfahrer gearbeitet, bis ich nicht mehr zwei Meter vor mich blicken konnte und auf einer Fahrt zwei Laternen und einen Eiswagen mit mir riss. Und was ist der Dank dafür? Eine Entlassung mit Mitte 50! Ein Paar Jahre 1-Euro Jobs und Leiharbeit. So konnte ich gerade noch meine Familie ernähren. Aber als die Weltwirtschaftskrise einbrach, lief das auch nicht mehr lang. Seitdem sitze ich Tag für Tag auf dieser Bank, weil ich keine Arbeit mehr finde. Heute haben nur 8,3% der Männer und 3,4% der Frauen mit 64 Jahren eine sozialversicherungspflichtige Arbeit. Ich habe mein Leben lang alles gegeben, um jetzt eine bald eine minimale Existenzabsicherung zu erlangen. Das Niveau der gesetzlichen Rente wird planmäßig abgesenkt auf nur noch 40% des letzten Nettoverdienstes. Man beschwert sich darüber, dass die jungen Menschen zu wenige Kinder bekommen? Flexibilität und Lockerung aller Rechte von Arbeitern, zum Beispiel des Kündigungsschutzes werden doch zur Norm auf dem Arbeitsmarkt. Unter diesen unsicheren Verhältnissen erwartet man von jungen Menschen, Familien zu gründen und Kinder zu bekommen? In so einer Gesellschaft hat eine Familie keine Chance zu überleben und ist unerwünscht.“ Hans guckt ganz erschrocken und fragt sich, ob Gerd vielleicht doch recht hat.

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