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Militärputsch vom 12. September 1980 steht vor Gericht

Hüsnü Öndül

 

Es gibt den Begriff von der „Gerechtigkeit der Übergangszeit“. Damit werden Prozesse in Ländern beschrieben, die nach traumatischen Erlebnissen die ersten Schritte in Richtung Demokratie unternommen haben. Es geht um die Abrechnung mit der Vergangenheit. Die Abrechnung erfolgt vielfältig. Zu Beginn des Prozesses werden meistens „Wahrheitsausschüsse“ eingerichtet. Dafür werden Gesetze verabschiedet. Heutzutage verrichten in knapp 40 Ländern solche Ausschüsse ihre Arbeit. Zur „Abrechnung“ gehören Rituale, genauso wie Denkmäler, manche führen Gedenktage ein. Damit die Namen der Opfer weiterleben, werden Plätze und Straßen nach ihnen benannt. Täter werden vor Gericht gestellt. Manche zeigen Reue, entschuldigen sich und geben ihre Verbrechen zu.

Vor allem handelt es sich dabei um einen Prozess des Umdenkens.

Am 4. April fand vor dem Sonderstrafgericht Ankara der erste Prozesstag für solch eine Vergangenheitsbewältigung in der Türkei statt. Die Angeklagten waren Greise, die das 90. Lebensjahr hinter sich haben. Vor 30 Jahren waren sie die Mächtigen, die das Sagen hatten. Ihr Wort hatte Gesetzeskraft. Wenn man ihr Alter und ihren Gesundheitszustand berücksichtigt, könnte man heute Mitleid mit ihnen haben. Doch: Viele Menschen mussten in der Vergangenheit großes Leid ertragen. Die Abrechnung bei uns läuft allerdings anders. Bei uns wird mittels halbherzig geführter Prozesse abgerechnet. In allzu naher Zukunft werden wir sehen, wie Gesetze zur Gründung von Wahrheitsausschüssen erlassen werden, die aus Erfahrungen anderer Länder lernend ihre Arbeit aufnehmen. So zumindest wünscht sich das die Gesellschaft. Vielmehr fordert sie es.

Die Regierungen bisher haben sich aber lange Zeit dieser Forderung widersetzt. Heute wird jedoch ein Teil der Forderungen zur Rechtsnorm, wie wir das beim Referendum zur Grundgesetzänderung sehen konnten. Es bewahrheitet sich, dass die Bevölkerung in der Türkei der Ursprung und die bewegende Kraft für Schritte zur Demokratisierung ist. Das unterstreichen wir immer wieder. Und meines Erachtens hinken die Politiker ihr hinterher. Die Gesellschaft ist viel weiter, als die Bürokraten und die Politiker. Die zentrale Frage ist, wie sie die Wünsche und Forderungen der Gesellschaft erwidern können.

Das Regime, das mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 errichtet wurde, besteht mit seinem für Leiden sorgenden System weiterhin. Auch die Gewohnheiten, die er installiert hat, bleiben weiter bestehen.

Mit der Zeit altert jeder und alles. Das Leben ist ein dynamischer Prozess. Das Volk möchte, dass die Denkweise der Militärjunta durch Gerichte und in allen Bereichen des Lebens verurteilt wird. Deshalb hat das aufgerollte Gerichtsverfahren gegen die Putschisten mehr als Symbolcharakter.

Jedoch: Wir stehen vor dem Problem der Verjährung oder dass das Gericht die Angeklagten freispricht. Und die Stimmen der Opfer, der Vermissten, Getöteten und ins Exil Verbannten hallen weiter. Der Völkermord an Armeniern, der Dersim-Aufstand, die Pogrome an den Angehörigen der griechischen Minderheit im Jahre 1955, die Militärputsche in den späteren Jahrzehnten. Die Liste könnte man fortsetzen. Sie alle warten heute noch auf Aufklärung.

Es ist schon sehr merkwürdig. Die Menschen werden dazu verdammt, ihr Recht und Gerechtigkeit vor Gerichten einzufordern, deren Legitimität und Rechtmäßigkeit fraglich ist.

Das führt zu weiterem Leid für Menschen, die für die ihnen zugeführten Ungerechtigkeiten eine rechtmäßige Wiedergutmachung mit einem gerechten Prozess fordern. Und abschließend soll hier gestattet sein, der von mir geteilten Hoffnung vieler um Gerechtigkeit kämpfender Menschen Ausdruck zu verleihen:

Die Abrechnung mit dem 12. September möge ein Zeichen für Fortschritte sein. Sie soll die Tür für die Auseinandersetzung mit dem Trauma des Jahrhunderts öffnen.

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