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Tarifeinheit per Gesetz?

Cansel Kızıltepe*
Das Streikrecht ist ein hohes Gut in einer Demokratie. Vor allem für die Gewerkschaften ist es bis heute das schärfste Mittel im Kampf für die Belange der Beschäftigten. Nicht zuletzt deshalb sieht das Grundgesetz in Art. 9 das Recht auf kollektive Koalitionsfreiheit vor. Was kompliziert klingt, meint das Recht, sich frei einer Organisation anschließen zu können, bspw. einer Gewerkschaft der Wahl.
2010 haben der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Arbeitgeberverbände die Politik aufgefordert eine gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit zu schaffen. Anlass war das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, dass verschiedene Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften für ein und dieselbe Beschäftigtengruppe gelten können. Diesen Zustand bezeichnet man als Tarifkollision. Ein Arbeitgeber muss in diesem Fall damit rechnen, dass ein Tarifabschluss mit einer Gewerkschaft keine Planungssicherheit für die gesamte Gruppe von Beschäftigten schafft.
Nun hat Andrea Nahles als Arbeitsministerin der Großen Koalition ein Gesetz vorgelegt, dass diesen Zustand gesetzlich regeln soll. Demnach würde im Falle einer Tarifkollision nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft angewendet, die die meisten Mitglieder im gesamten Betrieb hat. Diese Regelung kommt dann zur Anwendung, wenn es den verschiedenen Gewerkschaften zuvor nicht gelungen ist, sich über Zusammenschlüsse und Reichweiten von Tarifverträgen zu einigen. In vielen Fällen geschieht das durch die Abstimmung über Zuständigkeiten, Tarifgemeinschaften oder Ergänzungen von bestehenden Tarifverträgen.
Dennoch zieht der Gesetzentwurf heftige Kritik auf sich. Im Zentrum steht dabei das Streikrecht. Kritiker argumentieren, dass es eingeschränkt wird, weil Mitglieder kleinerer Gewerkschaften keine Chance mehr haben, für einen eigenen Tarifvertrag zu kämpfen und in letzter Konsequenz dafür zu streiken. Der Vorrang für einen Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft kommt also praktisch einem Streikverbot der kleineren Gewerkschaften gleich.
Ich nehme diese Bedenken sehr ernst. Aus ihrer Geschichte heraus hat die Sozialdemokratie hier eine besondere Verantwortung. Andererseits muss auch darauf geachtet werden, dass keine Beschäftigtengruppe nur aufgrund ihrer besonderen und starken Position im Betrieb (Piloten, Werksfeuerwehren, Ärzte, Lokführer und viele andere mehr) bessere Arbeitsbedingungen heraushandeln kann. Das Streikrecht hatte immer zu Ziel bessere Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten gegen die Arbeitgeber zu erkämpfen. Es war und sollte nie zum Instrument einiger weniger werden.
In den anstehenden parlamentarischen Beratungen müssen die Bedenken umfassend geklärt und überzeugend ausgeräumt werden. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass die SPD das Streikrecht einschränkt und damit verhindert, dass Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben kämpfen können. Anders ist für mich eine Zustimmung zum Gesetzentwurf nicht vorstellbar.

* Mitglied des Bundestages für die SPD

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