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Türkei: Anschlag, Gewalt und Politik

İhsan Çaralan

 

Der Anschlag in Antep kostete 9 Menschen das Leben, 17 Menschen wurden verletzt,  davon 4 schwer. Es war einer der schwerwiegensten Anschläge der letzten Zeit und vergiftete die Feiertage [Zuckerfest nach dem Fastenmonat Ramadan, d. Übersetzer].

Keine Frage: Wer diesen Anschlag auch verübt hat, ist zu verurteilen. Ebenso schwerwiegend und zu verurteilen ist, dass unmittelbar danach bestimmte Kreise Menschen anstachelten, die Büros der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) anzugreifen und in Brand zu setzen oder Gerüchte verbreiteteten, es sei eine Bombe aus Syrien gewesen. Es ist politisches Kalkül der Regierenden, den Anschlag als Legitimation für die rassistische und chauvenistische Politik gegen die Kurden und die auf Konfrontation zielende Syrienpolitik zu nutzen. Denn wer auch immer die Bombe gelegt hat, nach so einem Anschlag war der Nutznießer schon immer die (AKP-)Regierung, die das Kurdenproblem weiter vertieft hat, Krieg als Mittel für wirtschaftlichen und politischen Gewinn nutzt und die Kunst beherrscht, das Volk politisch zu entmündigen und es für ihre eigenen politischen Interessen als Reservekraft zu benutzen.

Nach dem Anschlag sind die Medien mit gewohnter Manier aufgetreten: Die PKK beschimpfen und verteufeln und mit Behauptungen, Syrien würde diese unterstützen, den Ton und die Angriffe auf Syrien verschärfen.

 

Freie Schussbahn für alle Medien!

Wenn man den Medien Glauben schenken würde, könnte man denken, nicht die AKP, sondern die PKK würde das Land regieren. So als ob das Kurdenproblem nicht bereits seit Jahren mit Waffengewalt behandelt wurde und alle Regierungen mit dem Anspruch an die Macht gekommen wären, „wir werden das Problem lösen”, wird eine Stimmung gemacht, als ob solch ein Anschlag im Zuge dieser Verleumdungspolitik der letzten Jahrzehnte zum ersten mal geschehen sei oder als ob Assad, als hätte er nichts besseres zu tun, alles liegen und stehen lässt und sich nur darauf konzentriert, mit der Türkei eine Konfrontation zu entfachen.

Man muss sich aber fragen, ob diese Art von provokativer, aggressiver, vorurteilsschürender Berichterstattung auch nicht ein Grund dafür ist, dass die Gewalt innerhalb der Gesellschaft so gestiegen ist. Wenn man die Frage nicht stellt und keine Antwort darauf sucht, dann kann auch kein Weg aus dieser Aggression gefunden werden.

Ein weiterer Grund für die Gewalt innerhalb der Gesellschaft ist auch, dass die Regierung die zivilpolitischen Handlungsfelder durch Festnahmekampagnen und militärische Operationen so sehr eingrenzt, dass Gewalt und Kämpfe aus ihrer Sicht notwendige politische Handlungsmöglichkeiten werden. Wenn der Einsatz von Gewalt durch die Regierung politisch so benutzt wird, überrascht es nicht, dass die Gewalt unter den zivilen, politisch motivierten Gruppen auch zwangsläufig wird. Das eigentlich Gefährliche ist genau diese Entwicklung.

Hier können wir diese Frage stellen: Wenn der Einsatz von Gewalt nicht so sehr in den Vordergrund von politischen Handlungsoptionen gekommen wäre, wären die 10 Menschen in Sirnak auf die selbe tragische Weise gestorben? Die Antwort auf diese Frage ist selbstverständlich: NEIN!

In einem Land, in dem der Alltag so sehr politisiert abläuft, kann kein wichtiges Ereignis unabhängig von der Regierungspolitik betrachtet werden. Noch mehr: Sie haben unmittelbar miteinander zu tun. Der Regierungspräsident sagte in seiner Ramadanansprache „Unser Zusammenhalt wird ausgetestet!“, daraus folgerte er, dass versucht wird „die Türkei zu spalten“ und regte sich auf. Wenn man sich die internationalen Entwicklungen anschaut, wenn man die Ebene betrachtet, die das Kurdenproblem erreicht hat, dann kann man tatsächlich sagen „unser Zusammenhalt wird ausgetestet“. Aber viel wichtiger ist, es wird nicht gesehen, dass „es eine Möglichkeit gibt, einen neuen Zusammenhalt herzustellen.“ Denn der Präsident sieht in dem Selbstbestimmungsbestreben der Kurden ein Grund für „Spaltung“. Dies führt dann dazu, dass keine Möglichkeit zur friedlichen Lösung der Kurdenproblematik gesehen wird, dass tragische Vorfälle nicht verhindert werden können. Eigentlich könnten die von dem Präsidenten als „Trennungsgrund“ eingeschätzten Forderungen der Kurden als eine Grundlage für einen soliden, neuen und von Freiwilligkeit geprägten Zusammenhalt betrachtet werden. Alles andere führt nur dazu, dass die Türkei wie ein verwundeter Mensch sich an der selben Stelle immer wieder verletzt und immer wieder und immer lauter schreit und Schadenfreude bei seinen Nachbarn erntet. Dieses Geschrei führte auch in der Vergangenheit zu nichts anderem, als dass die Völker sich weiter voneinander entfernen, die Feindschaft und die Trennung innerhalb einer Gesellschaft sich immer mehr vertieft. Das heißt, wir müssen diese provokativen, menschenfeindlichen Angriffe verurteilen, unabhängig von der Frage, wer diesen Anschlag verübt hat. Aber in keinem Fall dürfen wir die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme außer Acht lassen, die Faktoren für solche Anschläge sind! Wenn bei solchen Angriffen nur die Oberfläche angekratzt wird und ausschließlich die Emotionen hochkommen, wird nur an den Grundlagen der türkisch-kurdischen Freundschaft gerüttelt. Dies gilt für demokratische Kreise, für die Presse als auch für die Regierenden. Aufrufe an die Vernuft haben auch etwas damit zu tun, dass gesellschaftliche Sensibilitäten wahrgenommen und berücksichtigt werden. Denn die Probleme sind gewachsen. Das Problem der demokratischen Lösung des Kurdenproblems ist mit der Frage zusammengewachsen, ob die Türkei eine friedliche Nachbarschaftsbeziehung zu den Nachbarvölkern aufrechterhalten möchte und ihr Selbstbestimmungsbestreben respektiert. Wenn dieser Zusammenhang nicht verstanden wird – durch die Regierung, die Opposition, die Intellektuellen oder die Presse – dann kann man von diesen Kreisen auch keine adäquaten Standpunkte, Entscheidungen oder Reaktionen erwarten.

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